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Charisma, Begeisterung, Kreischen

Ich lese Passagen eines Textes und stelle mir vor, wie das damals war: Man wurde zum Event geschickt, zu New Kids on the Block, zu East 17, den Backstreet Boys und manch anderen Boybands (Take that mit Robbie Williams hatte ich nicht erlebt). Man war befremdet, hatte das aber als Profi zu reportieren: wie „die Mädels“ in Ohnmacht fielen, wie sie abtransportiert wurden, man hatte zu recherchieren, wie viele es waren und wie dringend es gewesen sein muss, man war in einer Art „Aufwachraum, in dem die ganzen Komatösen versammelt waren und ärztlich betreut wurden, man kriegte oben in der Halle mit, welche Stimmung der Begeisterung da herrschte, wie diese sehr durchgeplanten Reißbrettshows abliefen mit Tanz und Bühnenbildern, wie die Anhängerschaften immer größer wurden, auch ohne Facebook und Youtube. Gelegentlich dachte ich: so muss es bei den Beatles gewesen sein! Eine mehr oder weniger grundlose Begeisterung für das Vitale an sich, für das Charismatische, für diejenigen, mit denen man sich (aus welchen Gründen auch immer...) identifizieren kann.

 

Ich fand das irgendwie lustig und betrachtete das als einen Trend, wie es ihn in der Popmusik immer wieder welche gibt. Heute scheint man schon wieder auf Begeisterung für Figuren wie Justin Bieber zurück zu blicken. Es ist bereits Vergangenheit. Der fing mit billigen Youtube-Filmchen an, die ihn als eine Art Privatperson aufbauen sollten. Es wird wohl ein Vorläufer (mal wieder....) derartiger Videoclips gewesen sein, die heute „viral gehen“ und in die meistens noch ein bisschen von der Werbung gepackt ist, die man früher „Schleichwerbung“ nannte. Heute sind das respektierte und bewunderte „Influencer“ deren Einfluss auf ihre Gefolgschaft die Werbung treibende Industrie sehr wohl schätzt.Amy Winehouse soll sich diesem Trend damals auch angeschlossen haben, so lese ich heute. Ich hatte das alles zu wenig ernst genommen, hatte darin ein Phänomen der gelangweilten Gesellschaft und der Unfähigkeit zur Identifikation gesehen. In der Not, so glaubte ich, mache man sich halt an solche Figuren ran. Doch ich sah nicht die Tragweite, die von solchen Mechanismen auszugehen schien. Die Simulation von Leben, das Erzeugen einer Scheinwelt, das Erschaffen einer Projektionsfläche. Das Kreischen des Publikums ordnete ich noch unter jenen Phänomenen ein, die damals die Beatles, Jimi Hendrix und Jim Morrison groß gemacht hatte. Ich bemerkte offenbar nicht, wie die Musik tatsächlich zu einer Art Nebensache degenerierte, mir war auch nicht aufgefallen, wie stark formatiert und zielgruppenorientiert das Publikum jener Zeit bereits gewesen ist und dass jemand wie ich wohl (wenn überhaupt!) als eine Art Fremdkörper empfunden worden sein muss. Ich stand von vornherein außerhalb und gab dem mit ein paar ironischen Kommentaren Ausdruck (subtil, so dass nur Wenige das so empfanden...). Ich hatte schon stark empfunden, dass Musikmachen etwas sehr Technisches geworden war, das im Extremfall auch kleine Kinder vorführen konnten, weil es ihnen von ihren Eltern oder ihrem Über-Ich wohl immer wieder aufgedrängt worden war. Das „Popgeschäft“ war wohl auch zu einer Art Übergangsindustrie der Parfüm- oder Klamottenindustrie geworden. Das alles nahm ich zu wenig ernst, weil ich es lächerlich fand und weil ich so viel Anderes in der Popmusik bereits gefunden hatte.