Bungeespringen mit der Gitarre

Neulich, beim Hören einer Rock-CD, gingen mir folgende Gedanken anhand von Fragen durch den Kopf, die einerseits beim Hören immer wieder inspiriert und gespeist wurden, sich aber andererseits zunehmend von dem entfernten, was da an mein Ohr drang. Das war mir insofern eine indirekte Anregung: Es rumpelt und ätzt auf dieser Scheibe in einem Stil, den viele Bescheidwisser ohne lange nachzudenken als „dreckig“ bezeichnen würden und der trashartig Klischees aus Rock und Blues aufnimmt, um sie ins Diffuse umzubiegen. Es muss schlampig wirken, halbgar, es muss sägen, es will unbedingt primitiv sein - das wird deutlich. „I woke up this morning. I thought, what am I doing here. My Brother he starts raging. Watch him rising, see him howling“. Ach ja, ist ja gut. 

Ob ein alternder Popstar so aufwacht? Dieser Sänger hier ist ja inzwischen auch schon weit mehr als 50 Jahre alt. Er will unbedingt noch Aufreger produzieren, er will provozieren und das möglichst "ehrlich" auf Tonspur bannen. Er will sich unbedingt für uns zurückerinnern an wilde Zeiten, als er noch kein allseits akzeptiertes Kulturgut war. Er mimt halt den singenden Wüterich. Doch vielleicht ist es auch der Sound, der hier zählt, der Ausdruck. Ob hier aber nicht wieder einmal die Gitarre herhalten muss, als ein tief verwurzeltes und in den vergangenen 50 Jahren durch tausend Jugendkulturen hindurch eingeübtes und immer wieder eindressiertes Ausdrucksmittel des Direkten, des Echten, des Rohen und des Unmittelbaren?

Transportiert die elektrische Gitarre und ihr Klang etwa einen Mythos und ist ein Symbol für verborgene wie auch für offene Sehnsüchte? Hat sich das so eingegraben in uns, dass wir dessen gar nicht mehr bewusst sind? Ist diese Gitarre das Symbol eines Sounds, der von Vornherein und generell unter allen Bedingungen durch solche „unbestreitbaren“ Qualitäten geadelt ist? Eines Sounds, der sich bis heute auch dadurch gehalten hat, dass er das sehr konstitutive Instrument eines von der Straße und nicht aus einem Studio kommenden Klanggebers der tiefen Empfindung ist? Das Tonstudio als ein Ort, der alles formt und manipuliert? Ist das naturgemäß schlecht? Was aus einer Gitarre kommt, einer elektrischen allzumal, scheint nicht künstlich und synthetisch gemacht oder produziert, sondern nachverfolgbar von Hand gespielt zu sein. Das scheint „ehrlich“, was im öffentlichen Sprachgebrauch ein leider sehr abgenutztes und oft sehr unehrlich eingesetztes Wort ist. Ist die Gitarre also ein Gegenmittel der Entfremdung gegenüber, so wie wir sie alltäglich jeder für sich und alle in allem erfahren? Diese Musiker hier tragen lange zottelige Bärte, was sich in ihrem musikalischen Tun auf geradezu rührende Weise abzubilden scheint. Halunken halt. Subversive Elemente. Ist aber die Gitarre, die hier so ätzt, eine Streitaxt des Urtümlichen dem allzu Glatten und technisch Aufbereiteten gegenüber, das uns überall so umgibt, dass wir keinerlei Widerstände mehr zu spüren glauben? Dass wir uns selbst kaum noch zu spüren glauben und uns in allerlei künstlich herbeigeführten Extremsituationen (wie Bungee-Jumping, Motorradfahren, ) neu selbst zu erfahren glauben müssen? Könnte die extreme Lautstärke, die besonders in den harten Spielarten der Rockmusik immer noch so konstitutiv zu sein scheint, etwas damit zu tun haben? Oder hat die elektrische Gitarre gar etwas mit dem Glauben zu tun, dem Glauben, dass aus dem Archaischen, Ungehobelten, Ungeschliffenen eine Art von Erneuerung käme. Art Brut? Dass dieser „dreckige“ Sound ein Gegenentwurf wäre zum bürgerlich wohlgeschliffenen Bildungsgut, dass es das Extreme dem Mäßigen gegenüberstellen würde? Ist eine solche Gitarre das Instrument einer Katharsis gar? Einer inneren Läuterung? Speist sich etwa die gitarristische Vorliebe gewisser harten Spielarten der Rockmusik wie Metal oder Thrash auch aus solchen Quellen? (Hat schon jemand eine Metalband gehört, deren Hauptinstrument ein Keyboard gewesen wäre?) Hat die Gitarre, die sich schließlich mit purem Krach in die Gehörgänge und möglichst widerborstig in die Gehörgänge und Seelen zu bohren scheint, eine Art Reinigungswirkung? Werden wir bessere Menschen dadurch, oder sind solche Mechanismen längst erschöpft und nur noch ein Zitat ihrer selbst, ein hohles Ritual? Ist der Spielraum des Ausdrucks hier nicht schon lange abgesteckt und hat nicht Hendrix schon vor 50 Jahren das Wesentliche dazu längst formuliert? Oder sind Hardcore und Trash immer noch Ausdruck des Agressiven und Subversiven, ein Symbol der Zersetzung? Kratzt sich der weidwunde Gitarrist dort nicht eine hörbare Substanz von der Seele ab? Schrubbt, fräst, schabt, ätzt und bohrt er nicht das auf, an was ich leide, wo ich meine Krankheiten, meine Disfunktionen und Deformationen habe? Das Ich, das jeder Hörer ist? Will ich sie stellvertretend und will er sie nicht direkt für uns ausleben? Entäußern? Werden wir beim Hören im stillen Kämmerlein einen Augenblick der Empfindung lang eins? Lässt die Gitarre da die akustischen Splitter bersten, lässt sie die ersatzweise ausgelebte Gewalt im Krach platzen? Entfacht sie noch immer das Feuer und den Mythos der Auflehnung, und steht sie für das schnell Angelernte, Dahergeschrubbte, das Improvisierte, Dahergeworfene, das sich auf diese Weise gegen die Symbole des Bildungsbürgertums, - das Klavier und die Streichinstrumente - auflehnt? Das sorgfältig ausgearbeitete, das kulturell Sublimierte? Leitet sie menschliche Energie in künstlerische Bahnen? Was ist künstlerisch heutzutage überhaupt? Steht die Gitarre für den Sound der Straße, für das Raue und Rohe, das Unmittelbare und das Nachverfolgungsbare, das dadurch, dass es kaputt ist, das Kaputte heilen kann? Macht kaputt, was euch kaputt macht? Bin ich durch das Hören darin eingebunden, in das Fragmentarische, Suchende, in eine Klangskulptur, die den Dreck der Straße formt? Solche Fragen stellten sich mir noch, nachdem längst Stille ins bedröhnte Kämmerlein eingezogen war.

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